
Verletzbarkeit
macht
stark
Wo mentale Gesundheit leidet, bildet Scham den Nährboden für Depressionen, Sucht, Essstörungen und Gewalt bis hin zum Selbstmord.

Von Mag.a Ines Siegl
Gehe nicht da raus und suche nach Beweisen dafür, dass du nicht gut genug bist, oder, dass du nicht dazugehörst – du wirst sie immer finden. Dein Wert hängt nicht ab von der Meinung der Welt, in der du dich bewegst. Über den Wert eines Menschen lässt sich nicht verhandeln. Wir tragen unseren Wert in unseren Herzen.“ Dr. Brené Brown

Ganz oder gar nicht
Wird die Scham nicht adressiert, ist die natürliche Reaktion emotionale Abstumpfung und Betäubung. Die kommt mit einem hohen Preis, denn Gefühle lassen sich nicht einfach auf Wunsch ausschalten. Betäuben wir Scham, Angst und Enttäuschung auf der einen Seite, dann betäuben wir auch Empathie, Glück und Verbundenheit auf der anderen Seite. Woraufhin wir uns miserabel fühlen, uns nach Sinn und Bestimmung in unserem Dasein sehnen, uns wiederum verletzlich fühlen . . . Ein gefährlicher, aber im höchsten Maße menschlicher Kreislauf.
Schließlich ist ein emotionales Grundbedürfnis jedes Menschen, so gesehen zu werden, wie wir im Wesenskern sind. Möglich wird das erst, wenn wir uns selbst die Erlaubnis erteilen, authentisch zu sein. Da die Persönlichkeit eines Menschen nicht das ganze Leben hindurch statisch dieselbe bleibt (Leben ist Veränderung), verlangt Authentizität immer wieder nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Diese Nuancen des Selbst zu ergründen ist unmöglich, ohne die Bereitschaft, sich angreifbar und dadurch verletzbar zu zeigen. Sich abseits gewohnter Muster zu bewegen ist eng geknüpft an die Fähigkeit sich vorbehaltlos zu öffnen.
Wir brauchen mehr Mut zur Verletzlichkeit – nur dann sind wir in der Lage, unser Potenzial voll auszuschöpfen.“ Dr. Brené Brown
Mehr als zehn Jahre Forschung bilden die Grundlage für diese Erkenntnisse. Brené Brown sammelte unzählige Geschichten, oder wie sie sagt, „Daten mit Seele“. Beim Auswerten stellte sie fest, dass sich die Menschen grob gesehen in zwei Gruppen teilen lassen: Menschen ohne Selbstwert und Menschen mit Selbstwert, die sie „wholehearted“ („aus ganzem Herzen“) nennt, denn so scheinen sie ihr Leben zu führen.
Browns Liste der Gemeinsamkeiten dieser Menschen liest sich wie eine Checkliste für ein glückliches Leben. Man packe ein:
- Den Mut, nicht perfekt sein zu müssen.
- Das Einfühlungsvermögen, sich selbst und andere gut zu behandeln. (Brown fand heraus, dass wir nicht in der Lage sind, anderen Menschen gegenüber Mitgefühl zu empfinden, wenn wir uns selbst nicht gut zu behandeln wissen.)
- Die Verbundenheit/das Gefühl der Zugehörigkeit, die entsteht als eine Begleiterscheinung der Authentizität. (Die Menschen sind gewillt, die Vorstellungen darüber loszulassen, wie sie dachten, sein zu müssen. So wurden sie zu den Menschen, die sie in ihrem Kern sind.)
- Die Bereitschaft, Schwächen anzunehmen. (Viele gaben sogar an, zu glauben, dass es ihre Schwächen sind, die sie besonders machen. Sie sprachen nicht von Verletzlichkeit als etwas Angenehmen oder Quälendem – sie sprachen von Verletzlichkeit als etwas fundamental Notwendigen. Wie der Bereitschaft etwas zu tun, für dessen Ausgang es keine Garantie gibt. Zum Beispiel als erste/r zu sagen „Ich liebe Dich“, ein Unternehmen zu gründen, einen Neubeginn zu wagen, . . .).
Es ist verlockend, außerhalb des Spielfeldes zwischenmenschlicher Beziehungen zu stehen und zu sagen – „ich gehe erst dann hinein, wenn ich kugelsicher und perfekt bin“. Doch perfekt wird man nie sein. Und Perfektion ist auch nicht immer das, was andere von uns sehen möchten. Die Aufgabe lautet: Sei mutig du selbst zu sein, engagiere dich aus ganzem Herzen für deine Überzeugungen und teile dein wahres Ich mit der Welt.“ Dr. Brené Brown
Potenziale blühen auf
Mit ihrer Forschung über das zwischenmenschliche Miteinander bewegt Brené Brown nicht nur Millionen von Menschen via Youtube. Ihre Bücher sind Bestseller und ihre Vorträge sind an Schulen und Universitäten genauso gefragt, wie in hochdotierten Unternehmen und dem US-Militär, die ihre Erkenntnisse zur Förderung von Führungskräften nutzen. Das zeigt deutlich: Überall dort, wo Menschen sind, fördern Mut, Mitgefühl und Zugehörigkeit das Miteinander, bringen individuelle und kollektive Potenziale zum Blühen und bilden so die Grundlage für Fortschritt, ganz zu schweigen von Empathie, Verbundenheit und Liebe. Wenn Ihnen also künftig jemand Verletzbarkeit als Schwäche anrechnet, bleiben Sie sich treu, bleiben sie empathisch und vertrauen Sie auf die Kraft wahrer Authentizität. Sie sind nicht allein.
Erkennen, Einordnen und Kommunizieren
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