Verletzbarkeit
macht
stark

Wo mentale Gesundheit leidet, bildet Scham den Nährboden für Depressionen, Sucht, Essstörungen und Gewalt bis hin zum Selbstmord. 

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Von Mag.a Ines Siegl


Wo mentale Gesundheit leidet, bildet Scham den Nährboden für Depressionen, Sucht, Essstörungen und Gewalt bis hin zum Selbstmord. Die texanische Sozialwissenschaftlerin Dr. Brené Brown machte dieses Phänomen wissenschaftlich greifbar und fand heraus: Nur wer den Mut hat zur Verletzbarkeit, ist in der Lage glücklich zu sein, sich verbunden zu fühlen und aus ganzem Herzen zu leben.

Scham ist eine Epidemie unserer Zeit – sie fährt im Fahrwasser der Verletzbarkeit (oder Verletzlichkeit) und bestimmt alle zwischenmenschlichen Situationen (Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft, Ausbildungs- und Arbeitsplatz, …). Weil Scham beeinflusst, wie wir auftreten und wie authentisch wir uns geben, trägt sie maßgeblich dazu bei, ob wir uns verbunden fühlen, wertgeschätzt und gesehen. 

Ein universales Gefühl

„Ich bin nicht gut genug“ und „Wer glaubst du, dass du bist?“ – zwei Sätze mit Sprengkraft, vielen schmerzlich vertraut aus quälenden inneren Monologen. Diese beiden Sätze zählen zu den erfolgreichsten Waffen, die Verletzbarkeit gegen uns in der Hand hat. Alle Perfektionisten kennen sie nur zu gut und lassen sich besonders wirkungsvoll von ihnen außer Gefecht setzen. Geht der Gedankenzirkus daraufhin so richtig los, ist der Grundstein zur Scham gelegt und Verschwiegenheit, Wortlosigkeit und Verurteilung helfen beim Aufziehen von Schutzmauern. Die Angst, das Innerste mit anderen zu teilen und zurückgewiesen zu werden, zementiert das Ganze ein. Dazu Dr. Brené Brown: „Wir alle haben dieses Gefühl – es ist universal. Jene Leute, die keine Scham verspüren, haben auch keine Fähigkeit zur Empathie oder anderen zwischenmenschlichen Verbindungen. Niemand will darüber sprechen. Aber je weniger man darüber spricht, umso mehr hat man es . . .“

Gehe nicht da raus und suche nach Beweisen dafür, dass du nicht gut genug bist, oder, dass du nicht dazugehörst – du wirst sie immer finden. Dein Wert hängt nicht ab von der Meinung der Welt, in der du dich bewegst. Über den Wert eines Menschen lässt sich nicht verhandeln. Wir tragen unseren Wert in unseren Herzen.“   Dr. Brené Brown

Das bedeutet im Umkehrschluss: Mit Empathie über die Scham zu sprechen hilft, sie greifbar zu machen und anzunehmen. Nicht umsonst sind zwei der bestärkendsten Worte, die man bei Scham hören kann, „ich auch“. In diesem Sinne eröffnete Brown den Dialog via Social Media und fragte: „Wie definiert ihr Verletzlichkeit und was lässt euch verletzlich fühlen?“. Einige der Antworten lauteten:

  • Meinen Mann um Hilfe zu bitten, wenn ich krank bin. 
  • In meiner Ehe die Initiative beim Sex zu ergreifen.
  • Zurückgewiesen zu werden von jemandem, der mir wichtig ist.
  • Jemanden um Hilfe bitten, weil ich es alleine nicht schaffe.
  • Auf den Anruf des Arztes zu warten.
  • Entlassen zu werden/jemanden zu entlassen.


Verletzungen entstehen häufig aufgrund von gesellschaftlichen Vorstellungen. Das reicht von gesamtgesellschaftlichen Rollenbildern, wie Mann oder Frau zu sein haben, bis hin zu innerfamiliären, innerbetrieblichen und ganz persönlichen Vorstellungen davon, wie „man“ oder „etwas“ zu sein hat, was „in Ordnung“ ist und was nicht. Klischees sind mit am Werk, wie „ein Mann ist stark“ oder „eine Frau hat das alles ohne Meckern hinzubekommen“. Aus ihnen entspinnt sich ein Netz aus unerreichbaren Zielen, niemals zu bewältigenden Anforderungen und unrealistischen Idealen.

Die Erforschung von Scham und Verletzbarkeit


Die Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften vereinen zahlreiche Disziplinen (Psychologie, Pädagogik, Anthropologie, Bedürfnisforschung, Soziale Arbeit,…). Sie alle widmen sich den Phänomenen des menschlichen Lebens. Forscherinnen wie Brené Brown tragen mit ihrer Arbeit unter anderem dazu bei, Begriffe zu definieren, mit denen sich diese Phänomene beschreiben lassen. Anhand von Fragebögen und Gesprächen werden Daten gesammelt und verglichen. Das fördert Grundmuster in Verhaltensweisen zu Tage, die auf ihre Wechselwirkung untersucht werden können, mit dem Ziel, diese Phänomene zu verstehen und zu nutzen. Dieser Beitrag behandelt die genannten Themen basierend auf der Forschung von Dr. Brené Brown. brenebrown.com. Foto: © Maile -Wilson

Ganz oder gar nicht

Wird die Scham nicht adressiert, ist die natürliche Reaktion emotionale Abstumpfung und Betäubung. Die kommt mit einem hohen Preis, denn Gefühle lassen sich nicht einfach auf Wunsch ausschalten. Betäuben wir Scham, Angst und Enttäuschung auf der einen Seite, dann betäuben wir auch Empathie, Glück und Verbundenheit auf der anderen Seite. Woraufhin wir uns miserabel fühlen, uns nach Sinn und Bestimmung in unserem Dasein sehnen, uns wiederum verletzlich fühlen . . . Ein gefährlicher, aber im höchsten Maße menschlicher Kreislauf. 

Schließlich ist ein emotionales Grundbedürfnis jedes Menschen, so gesehen zu werden, wie wir im Wesenskern sind. Möglich wird das erst, wenn wir uns selbst die Erlaubnis erteilen, authentisch zu sein. Da die Persönlichkeit eines Menschen nicht das ganze Leben hindurch statisch dieselbe bleibt (Leben ist Veränderung), verlangt Authentizität immer wieder nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Diese Nuancen des Selbst zu ergründen ist unmöglich, ohne die Bereitschaft, sich angreifbar und dadurch verletzbar zu zeigen. Sich abseits gewohnter Muster zu bewegen ist eng geknüpft an die Fähigkeit sich vorbehaltlos zu öffnen.

Wir brauchen mehr Mut zur Verletzlichkeit – nur dann sind wir in der Lage, unser Potenzial voll auszuschöpfen.“  Dr. Brené Brown

Mehr als zehn Jahre Forschung bilden die Grundlage für diese Erkenntnisse. Brené Brown sammelte unzählige Geschichten, oder wie sie sagt, „Daten mit Seele“. Beim Auswerten stellte sie fest, dass sich die Menschen grob gesehen in zwei Gruppen teilen lassen: Menschen ohne Selbstwert und Menschen mit Selbstwert, die sie „wholehearted“ („aus ganzem Herzen“) nennt, denn so scheinen sie ihr Leben zu führen.

Browns Liste der Gemeinsamkeiten dieser Menschen liest sich wie eine Checkliste für ein glückliches Leben. Man packe ein:

  •  Den Mut, nicht perfekt sein zu müssen.
  • Das Einfühlungsvermögen, sich selbst und andere gut zu behandeln. (Brown fand heraus, dass wir nicht in der Lage sind, anderen Menschen gegenüber Mitgefühl zu empfinden, wenn wir uns selbst nicht gut zu behandeln wissen.)
  • Die Verbundenheit/das Gefühl der Zugehörigkeit, die entsteht als eine Begleiterscheinung der Authentizität. (Die Menschen sind gewillt, die Vorstellungen darüber loszulassen, wie sie dachten, sein zu müssen. So wurden sie zu den Menschen, die sie in ihrem Kern sind.)
  • Die Bereitschaft, Schwächen anzunehmen. (Viele gaben sogar an, zu glauben, dass es ihre Schwächen sind, die sie besonders machen. Sie sprachen nicht von Verletzlichkeit als etwas Angenehmen oder Quälendem – sie sprachen von Verletzlichkeit als etwas fundamental Notwendigen. Wie der Bereitschaft etwas zu tun, für dessen Ausgang es keine Garantie gibt. Zum Beispiel als erste/r zu sagen „Ich liebe Dich“, ein Unternehmen zu gründen, einen Neubeginn zu wagen, . . .).

Es ist verlockend, außerhalb des Spielfeldes zwischenmenschlicher Beziehungen zu stehen und zu sagen – „ich gehe erst dann hinein, wenn ich kugelsicher und perfekt bin“. Doch perfekt wird man nie sein. Und Perfektion ist auch nicht immer das, was andere von uns sehen möchten. Die Aufgabe lautet: Sei mutig du selbst zu sein, engagiere dich aus ganzem Herzen für deine Überzeugungen und teile dein wahres Ich mit der Welt.“  Dr. Brené Brown

Potenziale blühen auf

Mit ihrer Forschung über das zwischenmenschliche Miteinander bewegt Brené Brown nicht nur Millionen von Menschen via Youtube. Ihre Bücher sind Bestseller und ihre Vorträge sind an Schulen und Universitäten genauso gefragt, wie in hochdotierten Unternehmen und dem US-Militär, die ihre Erkenntnisse zur Förderung von Führungskräften nutzen. Das zeigt deutlich: Überall dort, wo Menschen sind, fördern Mut, Mitgefühl und Zugehörigkeit das Miteinander, bringen individuelle und kollektive Potenziale zum Blühen und bilden so die Grundlage für Fortschritt, ganz zu schweigen von Empathie, Verbundenheit und Liebe. Wenn Ihnen also künftig jemand Verletzbarkeit als Schwäche anrechnet, bleiben Sie sich treu, bleiben sie empathisch und vertrauen Sie auf die Kraft wahrer Authentizität. Sie sind nicht allein.

  Erkennen, Einordnen und Kommunizieren

Wollen wir als Menschen in einer Welt zueinander finden, die voll ist mit potenziellen emotionalen Verletzungen, dann führt kein Weg vorbei an der Bereitschaft zur Offenheit. Was es dazu braucht, ist das Erkennen, Einordnen und Kommunizieren der eigenen Gefühle. Dazu brauchen wir die passenden Worte, um auf den Punkt zu bringen, was wir meinen. Aus diesem Grund erarbeitete Brené Brown eine Liste der Gefühle, die im Zuge der Forschung von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen unterschieden wurden. Brown nennt sie Kern-Emotionen. Die Liste soll unterstützen, Gefühle besser einordnen zu können und ist nicht als vollständig zu betrachten:

  • Wut
  • Angst
  • Zugehörigkeit
  • Neugier 
  •  Enttäuschung
  •  Ekel
  • Verlegenheit
  • Mitgefühl
  • Aufregung / Erregung
  • Furcht
  • Frusttation
  • Dankbarkeit
  • Trauer
  • Schuld (auf sich selbst bezogen)
  • Schuld / Beschuldigung (nach außen gerichtet)
  • Glück
  • Erniedrigung
  • Kränkung / Verletzung
  • Freude
  • Neid
  • Beurteilung / Verurteilung
  •  Einsamkeit
  •  Liebe
  • Überwältigung / Überforderung
  • Reue / Bedauern
  • Traurigkeit
  • Scham
  • Überraschung
  • Verletzbarkeit
  • Sorge/besorgt sein

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